Dienstag, 30. Juli 2013

Eindrücke aus vier Wochen Türkei


Dies ist ein Versuch ein Fazit zu ziehen. Ein Fazit meiner persönlichen Eindrücke und
Wahrnehmungen, die ich im Laufe unserer vierwöchigen Türkeireise gewonnen habe. 

Die Türkei ist ein wahnsinnig vielseitiges Land, sowohl landschaftlich als auch kulturell. Das Leben in den einzelnen Regionen ist stark durch die jeweilige Geschichte geprägt. Die Vision des Staatsgründers Atatürk eines einheitlichen türkischen Volkes ist auch 90 Jahre nach der Staatsgründung keineswegs Realität. Schon nur das Verständnis zum Staat ist im Westen ein anderes als im Osten. In Istanbul und an der Küste hängt auf jedem zweiten Balkon eine türkische Flagge. Nein, nicht nur auf vielen Balkons, auch an den Mauern zahlreicher Tankstellen, Einkaufszentren oder Restaurants. Der türkische Nationalismus ist hier allgegenwärtig. In Anatolien ist dies anders. Wir sehen kaum Nationalflaggen, schon gar nicht auf privatem Eigentum. Die Kurden sind zuerst Kurden, und dann Türken. Die Politik der Unterdrückung der Kurden hat ihre Spuren
hinterlassen.

Wenn wir schon beim Stichwort Politik sind, muss an dieser Stelle auch der Islam genannt werden. Es besteht nach wie vor eine grosse Gemeinschaft gläubiger Muslime in der Türkei. Der Spagat zwischen einem modernen Nationalstaat und Islam ist schwierig zu vollziehen. Ob durch Atatürks Politik des Laizismus oder aktuell durch Erdogans islamisierte Politik, es scheint als ob einzelne Bevölkerungsgruppen in der Türkei immer das Nachsehen haben. Entweder die Einen oder die Anderen. Auf dem Taksim-Platz in Istanbul ist es inzwischen wieder ruhig, die Proteste sind
abgeflacht. Aber wie wir hören brodelt es im Kreise der jungen Intellektuellen in Istanbul. Es sitzen noch immer unrechtmäßig festgenommene im Gefängnis. Aber der nächste Protest soll durchdacht und organisiert sein. Die urbanen Menschen in Istanbul, Ankara und Izmir haben gespürt, dass der Protest auf fruchtbaren Boden stösst - in den grossen Städten. Ich kann die Leute sehr sehr gut verstehen. Ich hoffe aber, dass ein allfälliger Systemwechsel für alle Bevölkerungsgruppen verträglich sein wird, auch für die gläubigen Muslime in Anatolien, denn der Islam ist Teil ihrer
Kultur, den sie weder leugnen können noch wollen. Wir diskutieren, wie eine Türkei aussehen könnte, in der Lifestyle aller Bevölkerungsgruppen respektiert wird. Vielleicht wäre Föderalismus eine Option. Dann müsste die Zentralregierung allerdings einen Teil der Macht abgeben. Ob das realisierbar wäre…?

Die Türkei ist ein Land im Wachstum. Überall wird gebaut. In sämtlichen Vororten der grösseren Städte schiessen die Wohnungen wie Pilze aus dem Boden. Nicht nur in Istanbul oder Izmir, auch in Urfa oder Diyarbakir. Beim Vorbeifahren fragen wir uns, wer alles in diese Wohnungen einziehen soll. Ein Einheimischer klärt uns auf: Ein türkischer Mann der Mittelklasse ist  gesellschaftlich dann
respektiert wenn er heiratet, eine Wohnung kauft und Familie gründet (in dieser Reihenfolge). Da die Bevölkerung in der Türkei extrem jung ist, werden in Zukunft viele Päärchen heiraten und eine Wohnung kaufen. Bünzlitum à la Türkei.

Trotz zunehmender Individualisierung ist noch immer die Familie die Sozialversicherung. Wer durch die grossen sozialen Maschen fällt und keine Familie hat, hat es schwer. Da ist zum Beispiel die Geschichte von Osman. Osman hat während 10 Jahren in Deutschland gelebt: Germanistik studiert und gearbeitet. 1989 ist er zurück in die Türkei gekommen, musste ins Militär. Gegenüber dem Militär hat er Widerstand geleistet, zuviel Widerstand. Er landete im Gefängnis. Für 53 Monate. In dieser Zeit lief seine Aufenthaltsbewilligung in Deutschland ab. Also hat er sich in Istanbul einen Job
gesucht. Das ging gut, bis er vor 2 Jahren einen schweren Unfall hatte. 1,5 Jahre war er bettlägerig, seit einem halben Jahr kann er wieder gehen. Aber er humpelt, quält sich. Sein Brot verdient er mit Nachhilfeunterricht für Erasmus-Studenten. An “richtige” Arbeit ist nicht zu denken. Er bewohnt eine Einzimmerbude in Istanbul. Sie kostet monatlich 30 Euro. Osman ist zwei Monaten mit der Miete im Rückstand, er weiss nicht wie er die nächsten Monate bezahlen soll. Er hat eine 80-jährige Mutter, die ihm nicht helfen kann. Sonst hat er niemanden. Seine herzzerreißende Geschichte erzählt uns Osman ohne Mitleid erregen zu wollen, kann sogar Positives in seinem Schicksal sehen. Aber ich bin erstaunt, als er sagt er sei 56 Jahre alt. Ich hätte ihn auf 70 geschätzt. Offensichtlich hat sein Schicksal seine Spuren hinterlassen. Einen Sozialstaat wie wir ihn kennen gibt es in der Türkei nicht. Dies ist wohl einer der Gründe, weshalb Familie so so wichtig ist. 

Eine Konstante in der Türkei sind die liebenswerten Menschen. Wir gelangen oft in unverfängliche
Gespräche, die Leute freuen sich über unseren Besuch. Wir werden eingeladen, mitgenommen, uns werden Kleinigkeiten geschenkt. Wir könnten es jedoch noch mehr geniessen, könnten wir richtig türkisch. Gerade in Anatolien sprechen die Menschen kaum englisch. Dort sind es auch ausschließlich Männer, die uns in Gespräche verwickeln. Von Frauen werden wir nicht angesprochen. Ich persönlich finde es sehr schade, dass wir im Osten kaum mit Frauen Kontakt haben. Die Meinung einer kopftuchtragenden Frau würde mich sehr interessieren. Wie schaffen sich diese Frauen ihre Freiräume? Welche Träume haben sie? Das öffentliche Leben in der Osttürkei ist männerdominiert. Abends sehen wir kaum Frauen auf der Strasse oder in einem Teelokal.

 Und das Reisen während des Ramadan? Es ist kein Problem, auch in den muslimisch-geprägten Gebieten. Zwar haben viele Restaurants tagsüber geschlossen. Die Stimmung am Abend, kurz vor Ende des Ramadans, ist dafür umso schöner. Die Menschen sind gut gelaunt, freuen sich aufs Essen. Während rund einer halben Stunde sind dann die Strassen leergefegt. Die Menschen essen in den Restaurants oder zuhause. Aber es geht alles ganz schnell. Die Türken sitzen nach dem Essen nicht noch stundenlang im Restaurant. Sie gehen in die nächste Teestube und trinken ihren Tee.

Alles in allem war die Reise durch die Türkei wunderschön. Geprägt von Eindrücken sämtlicher Sinne. Wir reisten durch ein Land mit einer bewegten und spannenden Geschichte, die noch nicht zu Ende ist. Die Türkei ist im Wandel, das spürten wir in all den Gesprächen die wir führen durften. Abschliessend kann ich sagen dass mich die Türkei fasziniert und dass sie mir mit ihren Menschen ans Herz gewachsen ist.

Inzwischen sind wir im Iran. Die Blogseite ist hier gesperrt, wie auch facebook und andere social media Seiten. Aber wie ihr seht finden auch wir Wege - genau wie die Iraner - die Blockade zu umgehen :-)

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