Dienstag, 30. Juli 2013

Eindrücke aus vier Wochen Türkei


Dies ist ein Versuch ein Fazit zu ziehen. Ein Fazit meiner persönlichen Eindrücke und
Wahrnehmungen, die ich im Laufe unserer vierwöchigen Türkeireise gewonnen habe. 

Die Türkei ist ein wahnsinnig vielseitiges Land, sowohl landschaftlich als auch kulturell. Das Leben in den einzelnen Regionen ist stark durch die jeweilige Geschichte geprägt. Die Vision des Staatsgründers Atatürk eines einheitlichen türkischen Volkes ist auch 90 Jahre nach der Staatsgründung keineswegs Realität. Schon nur das Verständnis zum Staat ist im Westen ein anderes als im Osten. In Istanbul und an der Küste hängt auf jedem zweiten Balkon eine türkische Flagge. Nein, nicht nur auf vielen Balkons, auch an den Mauern zahlreicher Tankstellen, Einkaufszentren oder Restaurants. Der türkische Nationalismus ist hier allgegenwärtig. In Anatolien ist dies anders. Wir sehen kaum Nationalflaggen, schon gar nicht auf privatem Eigentum. Die Kurden sind zuerst Kurden, und dann Türken. Die Politik der Unterdrückung der Kurden hat ihre Spuren
hinterlassen.

Wenn wir schon beim Stichwort Politik sind, muss an dieser Stelle auch der Islam genannt werden. Es besteht nach wie vor eine grosse Gemeinschaft gläubiger Muslime in der Türkei. Der Spagat zwischen einem modernen Nationalstaat und Islam ist schwierig zu vollziehen. Ob durch Atatürks Politik des Laizismus oder aktuell durch Erdogans islamisierte Politik, es scheint als ob einzelne Bevölkerungsgruppen in der Türkei immer das Nachsehen haben. Entweder die Einen oder die Anderen. Auf dem Taksim-Platz in Istanbul ist es inzwischen wieder ruhig, die Proteste sind
abgeflacht. Aber wie wir hören brodelt es im Kreise der jungen Intellektuellen in Istanbul. Es sitzen noch immer unrechtmäßig festgenommene im Gefängnis. Aber der nächste Protest soll durchdacht und organisiert sein. Die urbanen Menschen in Istanbul, Ankara und Izmir haben gespürt, dass der Protest auf fruchtbaren Boden stösst - in den grossen Städten. Ich kann die Leute sehr sehr gut verstehen. Ich hoffe aber, dass ein allfälliger Systemwechsel für alle Bevölkerungsgruppen verträglich sein wird, auch für die gläubigen Muslime in Anatolien, denn der Islam ist Teil ihrer
Kultur, den sie weder leugnen können noch wollen. Wir diskutieren, wie eine Türkei aussehen könnte, in der Lifestyle aller Bevölkerungsgruppen respektiert wird. Vielleicht wäre Föderalismus eine Option. Dann müsste die Zentralregierung allerdings einen Teil der Macht abgeben. Ob das realisierbar wäre…?

Die Türkei ist ein Land im Wachstum. Überall wird gebaut. In sämtlichen Vororten der grösseren Städte schiessen die Wohnungen wie Pilze aus dem Boden. Nicht nur in Istanbul oder Izmir, auch in Urfa oder Diyarbakir. Beim Vorbeifahren fragen wir uns, wer alles in diese Wohnungen einziehen soll. Ein Einheimischer klärt uns auf: Ein türkischer Mann der Mittelklasse ist  gesellschaftlich dann
respektiert wenn er heiratet, eine Wohnung kauft und Familie gründet (in dieser Reihenfolge). Da die Bevölkerung in der Türkei extrem jung ist, werden in Zukunft viele Päärchen heiraten und eine Wohnung kaufen. Bünzlitum à la Türkei.

Trotz zunehmender Individualisierung ist noch immer die Familie die Sozialversicherung. Wer durch die grossen sozialen Maschen fällt und keine Familie hat, hat es schwer. Da ist zum Beispiel die Geschichte von Osman. Osman hat während 10 Jahren in Deutschland gelebt: Germanistik studiert und gearbeitet. 1989 ist er zurück in die Türkei gekommen, musste ins Militär. Gegenüber dem Militär hat er Widerstand geleistet, zuviel Widerstand. Er landete im Gefängnis. Für 53 Monate. In dieser Zeit lief seine Aufenthaltsbewilligung in Deutschland ab. Also hat er sich in Istanbul einen Job
gesucht. Das ging gut, bis er vor 2 Jahren einen schweren Unfall hatte. 1,5 Jahre war er bettlägerig, seit einem halben Jahr kann er wieder gehen. Aber er humpelt, quält sich. Sein Brot verdient er mit Nachhilfeunterricht für Erasmus-Studenten. An “richtige” Arbeit ist nicht zu denken. Er bewohnt eine Einzimmerbude in Istanbul. Sie kostet monatlich 30 Euro. Osman ist zwei Monaten mit der Miete im Rückstand, er weiss nicht wie er die nächsten Monate bezahlen soll. Er hat eine 80-jährige Mutter, die ihm nicht helfen kann. Sonst hat er niemanden. Seine herzzerreißende Geschichte erzählt uns Osman ohne Mitleid erregen zu wollen, kann sogar Positives in seinem Schicksal sehen. Aber ich bin erstaunt, als er sagt er sei 56 Jahre alt. Ich hätte ihn auf 70 geschätzt. Offensichtlich hat sein Schicksal seine Spuren hinterlassen. Einen Sozialstaat wie wir ihn kennen gibt es in der Türkei nicht. Dies ist wohl einer der Gründe, weshalb Familie so so wichtig ist. 

Eine Konstante in der Türkei sind die liebenswerten Menschen. Wir gelangen oft in unverfängliche
Gespräche, die Leute freuen sich über unseren Besuch. Wir werden eingeladen, mitgenommen, uns werden Kleinigkeiten geschenkt. Wir könnten es jedoch noch mehr geniessen, könnten wir richtig türkisch. Gerade in Anatolien sprechen die Menschen kaum englisch. Dort sind es auch ausschließlich Männer, die uns in Gespräche verwickeln. Von Frauen werden wir nicht angesprochen. Ich persönlich finde es sehr schade, dass wir im Osten kaum mit Frauen Kontakt haben. Die Meinung einer kopftuchtragenden Frau würde mich sehr interessieren. Wie schaffen sich diese Frauen ihre Freiräume? Welche Träume haben sie? Das öffentliche Leben in der Osttürkei ist männerdominiert. Abends sehen wir kaum Frauen auf der Strasse oder in einem Teelokal.

 Und das Reisen während des Ramadan? Es ist kein Problem, auch in den muslimisch-geprägten Gebieten. Zwar haben viele Restaurants tagsüber geschlossen. Die Stimmung am Abend, kurz vor Ende des Ramadans, ist dafür umso schöner. Die Menschen sind gut gelaunt, freuen sich aufs Essen. Während rund einer halben Stunde sind dann die Strassen leergefegt. Die Menschen essen in den Restaurants oder zuhause. Aber es geht alles ganz schnell. Die Türken sitzen nach dem Essen nicht noch stundenlang im Restaurant. Sie gehen in die nächste Teestube und trinken ihren Tee.

Alles in allem war die Reise durch die Türkei wunderschön. Geprägt von Eindrücken sämtlicher Sinne. Wir reisten durch ein Land mit einer bewegten und spannenden Geschichte, die noch nicht zu Ende ist. Die Türkei ist im Wandel, das spürten wir in all den Gesprächen die wir führen durften. Abschliessend kann ich sagen dass mich die Türkei fasziniert und dass sie mir mit ihren Menschen ans Herz gewachsen ist.

Inzwischen sind wir im Iran. Die Blogseite ist hier gesperrt, wie auch facebook und andere social media Seiten. Aber wie ihr seht finden auch wir Wege - genau wie die Iraner - die Blockade zu umgehen :-)

Samstag, 27. Juli 2013

Beeindruckende Berge und miserables Hamam

Wir sind in Doğubayazıt - unserer letzte Station in der Türkei. Die dreistündige Busfahrt führt durch die Berge, die im Winter manchmal wegen Schnee nur schwer passierbar sind. Zeitweise tuckern wir durch eine surreale Lava-Wüste. Als wir in Doğubayazıt aus dem Bus steigen weht uns das erste Mal seit vier Wochen eine angenehm kühle Luft entgegen. Wir sind hier auf 2000 Meter, was die Temperatur auf 25-30 Grad sinken lässt. Enttäuscht stellen wir fest, dass sich der nahe gelegene Berg Ararat in den Wolken versteckt.

Doğubayazıt ist vom Tourismus geprägt: Einerseits passieren Reisende hier die Grenze in den Iran. Andererseits ist der Ort auch Ausgangspunkt für eine Tour auf den Ararat. Um diesen zu besteigen braucht man eine Genehmigung aus Ankara. Dies scheint den Berg jedoch nicht vor den Massen zu schützen. Wie wir hören sind die Übernachtungslager in den Camps zugemüllt und verschissen, wohl ähnlich wie auf dem Mount Everest. Trotzdem hat das Städtchen seinen türkischen, respektive kurdischen Charakter nicht verloren.

Den Ararat zu besteigen ist uns zu mühsam (wieso stapfen Leute freiwillig im Sommer im Schnee herum?), wir fahren zur anderen Sehenswürdigkeit des Städtchens, dem Ishak-Pascha-Palast. Ein lokaler Fürst hat Ende des 18. Jahrhunderts dieses märchenhafte Schloss mit den 366 (!) Zimmern gebaut. Da der Palast schön in den Bergen gelegen ist erkunden wir dabei gleich die Region rundherum und geniessen die Aussicht über die Weite. Wenn die Berge in der Schweiz so wären wie hier, dann könnte ich mir vielleicht auch vorstellen in den Bergen zu leben. Die Landschaft ist trotz den Erhebungen offen und weit - weniger eng als in der Schweiz.

Auf dem Rückweg zeigt er sich uns wunderschön, der Ararat. Frei steht er da, mit seinen 5165 Metern und der schneebedeckten Spitze. Hier soll also nach der Sintflut die Arche Noah gestrandet sein.

Nach der kleinen Wanderung sind wir der Meinung, wir bräuchten etwas Entspannung. Zwei Holländerinnen schwärmen von einem Hamam. Wir machen uns auf den Weg dorthin. Frauen und Männer sind im Hamam getrennt. Jonas geht ins Erkek-Hamam, ich stehe gleich nebenan vor dem Bayan-Hamam vor verschlossenen Türen. Der Hamam-Typ öffnet die Tür und winkt auch Jonas  herüber. Ich denke, aha, wir haben also ein Hamam für uns und können zu zweit hineingehen. Schön wärs, gleich darauf kommt eine Gruppe von fünf russischen Touristen, die wollen auch ins Hamam. Der Hamami ist jetzt etwas überfordert und pfercht uns und die Russen zuerst mal in eine kleine Sauna (Sauna? Ich dachte die käme aus Finnland, nicht aus der Türkei. Naja, egal, Hauptsache Entspannung). Zuerst wird Jonas gerufen: Peeling, Waschen, Massage (wenn man das so nennen kann). Dann bin ich an der Reihe. Bei mit gibt’s das Peeling und die Massage gleich in einem. Der Hamami ist ein Grobian. Nervös drückt er seine Fingerspitzen in meinen Rücken, fährt zackig auf und ab. Von Entspannung keine Spur. Zum Glück dauert der Spuck nur etwa 5 Minuten. Dann erhalten wir eine Seife und werden ins Hamam geschickt um uns zu waschen. Die Russen sind dran.

Beim Zahlen staunen wir nicht schlecht. Umgerechnet 17 Franken pro Person sollen wir für die Folter bezahlen. Ich beklage, das sei viel zu teuer. Der Hamami kennt keine Gnade und knöpft uns das Geld ab. Zurück im Hotel gehen wir erst mal duschen.

Am Abend reden wir lange mit unserem Hotelbesitzer über den Iran. Er gibt uns einige Tipps, rät uns vor allem auch den Westen, den kurdischen Teil des Irans zu besuchen. Morgen früh werden wir die Grenze passieren und nach Tabriz fahren. Der Rest ist offen… 



Ishak-Pascha-Palast





 
Rumgekraxel auf den Bergen

 


Eine Art Murmeltier, einfach weniger fett als bei uns
 



Berg Ararat 


Freitag, 26. Juli 2013

Entspannte Tage in Van

Unsere Weiterreise nach Van beginnt mit dem Nachtbus. Der erste Nachtbus auf der Reise. Ich bin müde, und jene die mich gut kennen wissen, dass ich in nullkommanix einschlafen kann. Jonas hat trotz Reise-Nackenkissen mehr Mühe. Die Beobachtung, wie halsbrecherisch der Buschauffeur über die kurvige Landstrasse fährt hilft auch nicht beim Einschlafen.

Eine Stunde früher als geplant erreichen wir um 6 Uhr in der Früh Tatvan. Von da wollen wir die Fähre über den Vansee bis nach Van nehmen. Am Hafen ist noch nichts los. Gemäss Lonelyplanet verkehrt die Fähre zweimal täglich. Wann genau steht nicht drin. Wir warten. Nach circa einer Stunde erklärt uns ein Einheimischer, dass die Fähre erst um 20 Uhr fährt. Somit wären wir erst um Mitternacht in Van. Wir ändern den Plan kurzfristig und nehmen den Bus, der hat nur 2 Stunden. Ich bin enttäuscht. Seit ich das erste Mal vom riesigen Vansee gehört habe, habe ich davon geträumt, diesen per Schiff zu überqueren. Ich habe mir das so abenteuerlich vorgestellt. Aber abends bei Dunkelheit macht es keinen Sinn.

Van war im Laufe seiner 3000-jährigen Geschichte immer wieder Zankapfel verschiedener Völker. Während dem ersten Weltkrieg stritten sich die Osmanen und die Russen, welche die in der Region ansässigen Armenier unterstützten, um den Ort. Im Rahmen der Gefechte wurde die Stadt damals praktisch vollständig zerstört und 4 km östlich der alten Stadt neu aufgebaut.

2011 erschütterte ein heftiges Erdbeben die Region. Rund 2300 Gebäude stürzten ein, mehrere hundert Menschen mussten ihr Leben lassen. Die Stadt ist auch Transitzone für tausende Asylsuchende auf ihrer Flucht in ein sicheres Land. Die Flüchtlinge stammen vor allem aus Afghanistan, dem Irak und dem Iran. Jungen im Alter von 10 Jahren putzen Schuhe, die jüngeren sitzen mit einer Waage am Strassenrand, wer will kann sich wägen lassen.  Ein verzweifelter Trick der Jungen besteht darin, vor eine zerscherbelte Waage zu sitzen, den Kopf hängen lassen und somit Mitleid zu erregen. Es ist traurig zu sehen, wie diese Kinder ihrer Kindheit beraubt werden.

Da die letzte Woche sehr intensiv war schalten wir hier einen Gang zurück. Wir beziehen ein schönes 4-sterne Hotel. Beim Erdbeben sind auch viele Hotels eingestürzt, das Angebot an Unterkünften ist entsprechend begrenzt. Wir zahlen den “Backpacker-Preis”, der völlig in Ordnung ist. Unser Programm besteht aus Vorbereitung der Iranreise und Faulenzen. Zwei Ausflüge in drei Tagen liegen aber drin.

Die Enttäuschung, nicht die Fähre genommen zu haben, sitzt noch immer. Als Entschädigung fahren wir mit dem Boot zur Insel Ahtamar, die das Wahrzeichen des Van-Sees beherbergt, eine über 1000 Jahre alte armenische Heiligkreuzkirche. Die Fahrt ist nur drei Kilometer, nichts, wenn man bedenkt dass der Vansee 120 km lang und 80 km breit - oder siebenmal so gross wie der Bodensee - ist. Naja, dafür konnten wir auf der Insel baden. Fotos von der Insel gibt es keine, ich Hanswurst habe die Bilder versehentlich gelöscht.

Der zweite Ausflug führt uns zum Van Kalesi, der Zitadelle im ursprünglichen Teil der Stadt. Die Burgreste stammen aus verschiedenen Epochen, von den Urartäern bis zu den Osmanen. Der Ort beherbergt auch eine Wasserquelle, zahlreiche Einheimische fahren mit Kanistern an um Wasser zu holen. Ein Türke lädt uns zum Abendessen ein. Da wir auch wegen dem Sonnenuntergang, der von der Burg aus mit Blick auf den See besonders schön sein soll, hier sind, lehnen wir ab. Während des Ramadan essen die Leute, sobald der letzte Sonnenstrahl weg ist. Da wären wir zu spät. Pünktlich zum Sonnenuntergang erscheinen jedoch ein paar Wolken auf der Bildfläche. Mist, wir hätten essen gehen sollen. Den Rückweg müssen wir zu Fuss in Angriff nehmen. Alle sind am essen, da läuft gerade nichts. Nach einer halben Stunde kommt das erste Auto, ein junger Türke nimmt uns mit.    

Und kulinarisch?
Seit Anfang unserer Reise begleiten uns immer wieder Köfte. Köfte sind gut gewürzte Hackfleischbällchen (Lamm, Rind oder gemixt), die gebraten, gebacken oder gegrillt daherkommen. In Van kommen wir in den Genuss besonders guter Köfte. In Südostanatolien sind die Çiğ Köfte ebenfalls weit verbreitet. Diese werden aus rohem Fleisch, Bulgur und zahlreichen Gewürzen hergestellt. Çiğ Köfte werden zum Apéro als Meze oder als Begleitung des Hauptgangs gereicht.
Eine Neuententeckung ist İrmik Helvası: Eine Süssspeise aus Maissgriess, Zucker, Milch, Zimt und Zitrone (Rezept gemäß Kellner). Ich hätte rein vom Geschmack her auf Mandeln getippt, und die Wette gegen Jonas verloren. Naja, egal was drin ist, schmecken tut es super. 



Insel Ahtamar mit der armänischen Kirche




Van Kalesi




Verpatzter Sonnenuntergang



Gegrillte Köfte


 
Çiğ Köfte
 



İrmik Helvası


Donnerstag, 25. Juli 2013

Ein Mord, eine Hochzeit und Essen bis zum umfallen

Die Fahrt nach Tunceli beginnt mit einem Mord - an zwei Spatzen. Die Vögel sitzen gemütlich auf der Strasse, ich denke, die gehen dann schon weg wenn ich komme. Päng! Mit 100 km/Stunde erwische ich zwei (Jonas behauptet es wären drei). Unser Auto wird zur Attraktion. Leute überholen uns, um die Vögel, die noch immer vorne am Auto kleben, besser sehen zu können. Wir haben die Hoffnung, die toten Spatzen fallen von selbst irgendwann ab. Das passiert nicht, also entfernt Jonas sie auf meinen Wunsch.

Auf dem Weg bringen wir Danielle und Jolan nach Diarbakir, unsere Wege trennen sich wieder. Verzweifelt suchen wir in der Stadt den Busbahnhof. Die Stadt ist eine riesige Baustelle. Es herrscht Verkehrschaos, nichts ist ausgeschildert. Bis jetzt habe ich es vermieden in grösseren Städten am Steuer zu sitzen, ich liess das - ganz nach türkischem Vorbild - Jonas machen. Wir werden das auch in Zukunft wieder so machen, ich besitze deutlich zu wenig Gelassenheit für den Verkehrsdschungel türkischer Städte.

Tunceli ist eine unzugängliche Region mit tiefen Schluchten und Bergketten bis zu 3600 Metern Höhe. Gleichzeitig ist Tunceli - oder Dersim, wie die Region vor der Umbenamsung durch Atatürk hieß - der  freieste Ort Ostanatoliens. Die Bevölkerung Tuncelis besteht zu 98% aus kurdischen Aleviten. Obwohl der Stadt in den Neunzigerjahren eine Moschee aufgezwungen wurde und der Islamunterricht seit über zwei Jahrzehnten Pflichtfach in den Schulen ist, trägt nach wie vor keine alevitische Frau ein Kopftuch. Der Alevismus zeichnet sich durch eine liberale und humanistische Auslegung der Religion aus. Nichtsdestotrotz - oder gerade deswegen - haben sich auch in Tuncelis Geschichte dunkle Kapitel abgespielt. 1938 brachte die türkische Armee in Dersim bis zu 70’000 Aleviten um. Im Rahmen der Staatsgründung der Türkei in den 1920er Jahren waren die Aleviten eine der tragenden Kräfte, da sie sich durch Einführung des Laizismus eine Gleichberechtigung gegenüber den Sunniten erhofften. Atatürk war jedoch die Struktur der Stämme ein Dorn im Auge - es stand im Widerspruch zu seinen Republikanismus und seinem Modernisierungsstreben. Zudem stieß er sich auch an der ethnischen Herkunft der Religion der Aleviten - das stand im Widerspruch zu seiner Vorstellung von einem homogenen türkischen Nationalstaat. Ethnisch-religiösen Minderheiten haftete der Geruch des Separatismus an. Als das Gerücht auftauchte, einige Stämme würden einen Aufstand vorbereiten, fasste die türkische Regierung 1937 den Beschluss zur Durchführung der Operation "Züchtigung und Deportation". Grosse Teile der Bevölkerung der Provinz wurde erschossen, erstochen, verbrannt und deportiert. Umstritten ob die Ereignisse von 1938 einem Genozid entsprechen oder nicht - sind sie zweifelsohne eines der dunkelsten Kapitel der Türkei seit deren Staatsgründung.

Bis heute werden die Aleviten, die zwischen 10% und 25% der Bevölkerung der Türkei ausmachen, vom Staat nicht als eigenständige und gleichberechtigte Bevölkerungsgruppe anerkannt. Seit der Reislamisierung der Türkei ab den 1970er Jahren wurden viele Aleviten und alevitische Gemeinden assimiliert.

Zudem ist zu erwähnen, dass sich in den 1980er Jahren der türkisch-kurdische Konflikt durch den bewaffneten Aufstand der PKK radikalisierte. Das türkische Militär begann einige Gebiete in der Südosttürkei zu evakuieren. 1986 wurden ca. 50’000 Bewohner der Provinz Tunceli deportiert  an die Mittelmeerküste verbracht. Heute noch sind die Berge rund um Tunceli Rückzugsgebiet der PKK-Aktivisten. Obwohl es seit einigen Monaten ruhig ist und kein Anschlag mehr stattgefunden hat, sehen wir nirgends so viel Militär wie in Dersim. Aufgrund der diversen historischen Ereignisse lebt eine bedeutende Diaspora der Dersim-Bevölkerung heute im Ausland, vor allem in Deutschland.

In Tunceli besuchen wir Gülüstan, die Tante mütterlicherseits meiner Freundin aus der Schweiz. Natürlich könnten wir auch hier bei Gülüstan und ihrem Mann Hidir übernachten. Trotzdem entscheiden wir uns für ein Hotel. So sind wir ein bisschen freier. Da die beiden 35 Jahre in Frankfurt gelebt haben unterhalten wir uns auf deutsch. Beide haben am Flughafen gearbeitet, die Schichten so gelegt, dass sich immer jemand um die beiden Kinder kümmern konnte.  Die Kinder und Enkel leben in Deutschland, und Gülüstan vermisst sie oft. Aber hier in Tunceli ist das Klima angenehmer und mit der deutschen Rente führen die beiden in der Türkei ein gutes Leben. Als wir uns am ersten Abend nach Essen und dem obligaten Tee verabschieden ist es uns noch zu früh um schlafen zu gehen. Wir nutzen die Gelegenheit in Tunceli wieder mal Alkohol zu bekommen (was in den traditionellen Orten der letzten Tage wegen des Ramadan schwierig gewesen wären) und gehen noch einen Raki trinken.

Am nächsten Tag machen wir mit Gülüstan und einer ihrer Freundinnen einen Ausflug an den Fluss und gehen schwimmen. Am Abend nehmen uns Gülüstan und Hidir an eine türkische Hochzeit mit. Böse Zungen behaupten die Hochzeiten in Tunceli seien Fliessbandhochzeiten. Da zu türkischen Hochzeiten zwischen 500 und 1000 “Gäste” kommen, sind die Durchführungsorte begrenzt. Also findet im Sommer jeden Abend irgendeine Hochzeit statt. Die Snacks werden (Flugzeugessen-ähnlich) abgepackt serviert, Alkohol gibt es keinen. Die Gäste kommen und gehen wie es ihnen passt, Hauptsache der Betrag des geschenkten Gelds oder Golds stimmt. Braut und Bräutigam haben ihre Wurzeln in Tunceli, wohnen aber heute in Holland. So sind wir nicht die einzigen Ausländer und fallen nicht auf.

An der Hochzeit treffen wir Freunde von Gülüstan und Hidir, die uns im Anschluss zum Essen einladen möchten. Wir haben noch nicht zu Abend gegessen, und an der Hochzeit werden nur Snacks serviert. Als wir um 10 Uhr aufbrechen haben wir trotzdem nicht mehr wirklich Hunger. In der Annahme wir essen alle zusammen, und aus Höflichkeit, willigen wir ein etwas kleines zu essen. Wir betonen, dass wir nur wenig Hunger haben und wirklich nur etwas Kleines möchten. Es wird bestellt - und als der Kellner das Essen serviert (das alles andere als klein ist) wird uns klar, dass unsere Freunde nur für uns essen bestellt haben. Für sie selber sei es zu spät zum essen. Anatolische Gastfreundschaft. Der kleine Appetit, den ich bis zu diesem Zeitpunkt noch verspürte, löst sich augenblicklich in Luft auf. Jonas und ich geben uns aber tapfer, essen soviel wir können. Das Essen plagt mich die ganze Nacht, die Bauchkrämpfe werde ich nur durch eine Tablette wieder los.

Von Tunceli fahren wir wieder nach Malatya, wo wir das Auto zurückgeben. Bevor unser Nachtbus fährt treffen wir uns noch mal mit Fidan und Mehmet zum Abendessen. Vor dem Essen fragt uns Fidan ganz unauffällig, was wir normalerweise in der Schweiz so essen. Wir sagen wir essen viel Pasta. Als wir bei Ihnen zuhause zu Tisch gebeten werden, stehen neben Lahmacun und anderem türkischen Essen auch Spaghetti mit Tomatensauce auf dem Tisch. Mehmet hat unterwegs Spaghetti organisiert. Anatolische Gastfreundschaft.



Die Schluchten Dersims



Unterwegs mit Gülüstan und ihrer Freundin



Familientreffen am Fluss


Dienstag, 23. Juli 2013

Zwei historische Städte: die eine wird aufgerüstet, die andere versenkt

Mit Danielle und Jolan fahren wir nach Mardin. Mardin liegt nur unweit von der syrischen und der irakischen Grenze und wurde im Laufe der Geschichte von den unterschiedlichsten Völkern beherrscht. Im 5. Jahrhundert ließen sich hier assyrische Christen nieder, darauf folgten die Araber, Seldschucken, Kurden, Mongolen und Perser, bis 1517 die Osmanen die Stadt übernahmen. Heute leben nur noch wenige Christen in Mardin, die meisten wurden Anfang des 20. Jahrhunderts vertrieben und umgebracht, oder emigrierten in den letzten Jahrzehnten.
Mardin verfügt über zahlreiche Moscheen, Medresen (frühere Schulen für Islamwissenschaften) und Kirchen. Wir schlendern durch die Gassen und begutachten die einzelnen Gebäude eher weniger gezielt. Oben im Städtchen angekommen liegt uns Mesopotamien zu Füssen. Der Blick in die unendlich weite Landschaft ist atemberaubend, auch wenn aufgrund der Hitze und des Staubs keine klare Sicht herrscht. Hier sind wir nun, an einem der geschichtsträchtigsten Orte der Türkei, und ich bedaure dass sich mein historisches Wissen auf die Ausführungen im Reiseführer begrenzt. Gerne würden wir noch die alte Burganlage auf dem Hügel besuchen. Diese wird jedoch noch immer von der Armee besetzt, eine Machtdemonstration gegenüber der kurdischen Bevölkerung. Pläne zur Freigabe der Anlage bestehen, jedoch wird diese mit dem Krieg im nahe gelegenen Syrien nicht so bald realisiert werden.

Die türkische Regierung möchte den Massentourismus in Mardin fördern. Bis zu jährlich 5 Millionen türkische und ausländische Touristen sollen das Städtchen in Zukunft besuchen. Dieses Vorhaben spüren wir an allen Ecken: einige Hotelbetonblöcke stehen bereits und verunstalten das Stadtbild. Und an jeder Ecke wird an den Strassen und Häusern gewerkelt. Das Abendessen, das Jonas in den kommenden Tagen verdauungsmässig zum Verhängnis wird,  geniessen wir dann mit Danielle und Jolan auf einer der zahlreichen Dachterrassen der Stadt.

Mardin ist zwar schön und hat mit den engen Gassen und den Kalksteinhäusern durchaus Charme. Trotzdem sind wir froh, als wir am nächsten Morgen wieder weiterfahren. Es gibt nur wenig günstige Unterkünfte in Mardin, in einer davon nächtigen wir. Dass Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage spüren wir dabei: Die Zimmer haben keine eigenen Toiletten, die “gemeinsame” Toilette ist nicht geputzt und die Zimmer sind muffelig. Der Pensionsbetreiber ist ein - nett ausgedrückt - spezieller Typ- mit einem etwas gestörten Verhältnis zu seinen Kanarienvögel. Der grösste seiner Vögel sitzt bei ihm wahrscheinlich im Kopf.

Da auch Danelle und Jolan Hasankeyf auf dem Plan haben, teilen wir das Auto nochmals. Wie in Mardin wechselten auch in Hasankeyf die Machthaber im Laufe der reichen Geschichte oft. Ein dunkles Kapitel der Geschichte ereignete sich hier während des Genozids an den Armeniern, als Hasankeyf ein wichtiger Vernichtungsort war.

Das Dorf ist wunderschön in die Landschaft zwischen Felsen und Tigris eingebettet. Menschen lebten hier in Höhlen, die wir von weitem bestaunen können. Wir sind glücklich, Hasankeyf noch besuchen zu können, denn die türkische Regierung plant im Zuge des Südostanatolien-Projekts, das die Schaffung vieler Staudämme (wie auch des Ilısu-Staudamms) zum Ziel hat, Hasankeyf unter Wasser zu setzen. Dagegen regt sich bis heute nationaler, meist kurdischer, und internationaler Protest. Ungeachtet dessen hat die Türkei Anfang August 2006 mit dem Bau des Staudamms begonnen. Voraussichtlich 2016 wird das Dorf unter dem Stausee verschwinden. Auch Schweizer Unternehmen wollten sich ursprünglich am Geschäft beteiligen und trotz Proteste von Menschenrechtsorganisationen mitverdienen. Der Bundesrat gewährte 2006 Exportrisikogarantien für die involvierten Unternehmen, die er wieder stoppte. Das Projekt wird trotzdem realisiert. Die türkische Regierung ist nun daran, den Landbesitzern das Land abzukaufen und die Leute umzusiedeln. Neue Dörfer sind im Bau. Wir spüren eine Art Untergangsstimmung im Dorf - in die Infrastruktur wird nicht mehr investiert. Der Gedanke daran, dass dieser spezielle Ort in ein paar Jahren überflutet sein wird, deprimiert mich.
Die Menschen hier wollen den Damm nicht. Von Häusern mit grossen Gärten müssen sie umziehen in kleine Wohnungen. Ich frage mich wovon die Bewohner leben werden, wenn keine Touristen mehr kommen.

In der Unterkunft treffen wir auf Mustafa. Mustafa ist 29 Jahre alt, ursprünglich aus Tunceli und arbeitet momentan für ein Forschungsprojekt der Universität Zürich, in dem er untersucht, inwiefern  sich die Kultur der Menschen in Hasankeyf durch den Wechsel der Siedlungsformen vom Leben in den Höhlen zum Leben im aktuellen Dorf, und vom Leben jetzt zum Leben in den neu gebauten Wohnungen für die Umgesiedelten verändert. Wir reden sehr lange mit Mustafa, über Hasankeyef, über das GAP-Projekt. Mustafa meint, dass es für die hier ansässigen Kurden schwierig ist, sich stark gegen das Projekt zu wehren. Die Menschen hier sind prinzipiell regierungsfreundlich, die Situation der Kurden hat sich unter Erdogan verbessert. Die ganze Region ist religiös geprägt und befürwortet in diesem Sinne den Kurs der Regierung. Zudem hat die ökonomische Förderung Südostanatoliens den Menschen bessere Infrastruktur gebracht. Nun bekommen die AKP-Anhänger der Region die Politik der Wirtschaftsförderung am eigenen Leibe zu spüren, was diese gemäß Mustafa zwar ärgert, aber nicht genug als dass sich in diesen Kreisen ein grosser Widerstand formieren würde. Mustafa ist Anthropologe und hat einen differenzierten Blick auf die Dinge. Es ist spannend mit ihm zu diskutieren. Obwohl seine Arbeit hier aufregend ist gesteht er ein, dass er  uns ein wenig beneidet um die Möglichkeit zu zweit eine grössere Reise machen zu können. Seine Freundin ist aus Deutschland, seit einem Jahr auf Jobsuche, was die Distanzbeziehung nicht einfacher macht. Umso mehr freut er sich, als er uns bei der Reise behilflich sein kann. Unser nächster Stopp ist Tunceli, seine Heimatstadt. Ruckzuck kontaktiert er seinen Cousin in der Stadt, der für uns ein Hotel reserviert und einen guten Preis aushandelt.

Und kulinarisch?
In Hasankeyf essen wir grillierten Fisch aus dem Tigris, ich würde sagen der beste Fisch bis jetzt. Und da Jonas noch von Bauchkrämpfen geplagt wird, darf ich alle grünen Paprikas, die ich so mag, aufessen.  





Mardin: Die Burg die wir wegen Besetzung der Armee nicht besuchen können





Blick über Mesopotamien





Die engen Gassen von Mardin



Hasankeyf






Künftiges Dorf für umgesiedelte Bewohner



Füsse baden im Tigris


Donnerstag, 18. Juli 2013

Arabische Düfte

Von Malatya fahren wir über Adıyaman zum Nemrut Dağı, einem 2150 Meter hohen Berg. Der späthellenistische König Antiochos I. errichtete auf dem Nemrut Dağı rund 50 Jahre v. Chr. Ein Heiligtum und Grabstätte. Das Heiligtum sollte Zentrum einer neuen, von seinem Vater Mithridates Kallinikos gestifteten und von ihm ausgebauten Religion sein, die persische und griechische Mythologie vereinte. Die Kultstätte wurde erst 1881 wiederentdeckt. Auf dem Gipfel sind vor allem die großen  Götterstatuen sehenswert. Und natürlich der Sonnenauf- oder Sonnenuntergang. Wir entscheiden uns für den Sonnenuntergang, denn für den Sonnenaufgang müssten wir bereits um ca. 4 Uhr auf dem Gipfel sein. Auf dem Weg zum Nemrut Dağı frage ich mich, wieso Antiochos diesen Berg ausgesucht hat. Die Region ist sehr heiß, eher unwirtlich und vor über 2000 Jahren muss der Weg da hinauf sehr beschwerlich gewesen sein. Ich denke mal der Standpunkt war strategisch wichtig. Auf Nemrut Dağı lernen wir das belgische Studenten-Päärchen Daniela und Johann kennen. Da wir die nächsten Tage die gleiche Route geplant haben, werden uns die beiden noch ein wenig begleiten.

Am nächsten Morgen fahren wir, nachdem uns der Chef der Pension noch ein Souvenir-Geschenk mitgibt, da er so Freude an Jonas hat, mit Daniela und Johann nach Urfa. Auf dem Weg besichtigen wir den Atatürk Staudamm. Allerdings können wir nicht über die Staumauer spazieren, wie wir uns dies von den Schweizer Stauseen gewohnt sind. In den 1980er Jahren startete die Türkei das riesige Staudammprojekt GAP, dessen Herzstück mit 169 Metern der Atatürk-Staudamm ist. Der Atatürk-Stausee ist 1.5 mal größer als der Bodensee. Die Menschen mit denen wir in Urfa sprechen sehen im Atatürk-Staudamm eine gute Entwicklung. Die sehr trockene Region verfügt nun über genügend Wasser, um Baumwolle, Mais oder Weizen anzubauen. Die landwirtschaftliche Produktion konnte enorm gesteigert werden. Ökologisch und politisch ist das Projekt jedoch hoch umstritten. Menschen müssen umgesiedelt werden, antike Stätten werden zerstört und das Projekt kostet die Regierung Milliarden. Zudem stellt das Projekt einen internationaler Konfliktherd zwischen der Türkei und den türkischen Anrainerstaaten dar. Diese sehen ihre Wasserversorgung bedroht und fürchten, dass die Türkei ihnen das Wasser einfach abdrehen könnte. Mit der Fertigstellung des GAP werden dem Euphrat etwa 11 Mrd. m³ und dem Tigris 6 Mrd. m³ Wasser pro Jahr entzogen. Dem Irak könnten dann bis zu zwei Drittel des vorherigen Euphratwassers fehlen, für Syrien sieht es nicht besser aus. Mit GAP lässt der türkische Staat also seine Muskeln spielen, ein Konflikt ums Wasser ist unumgänglich.

In Urfa herrscht Verkehrschaos. Es braucht etwas Nerven bis wir das Hotel finden, umso mehr weil es mit 40 Grad brütend heiß ist. Sobald es am Abend etwas abkühlt erkunden wir die Stadt. In Urfa haben wir das Gefühl, im Nahen Osten angekommen zu sein. Nur 50 km von der syrischen Grenze sind hier die arabischen Einflüsse gut spürbar: wir sehen ab und zu arabische Beschriftungen, die Händler verkaufen Datteln und orientalische Gewürze, eine bedeutende Minderheit der Einwohner ist arabischstämmig. Urfa (oder gemäß neuem Namen Şanlıurfa) ist die fünftheiligste Stätte des Islam und ein bedeutender Wallfahrtsort. Abraham und Ijob sollen hier gelebt haben. Entsprechend islamischer Tradition wurde Abraham hier geboren, seine angebliche Geburtshöhle wird verehrt und ist eine wichtige Pilgerstätte. Zur bedeutenden Halil-Rahman-Moschee gehört ein Teich mit heiligen und unantastbaren Fischen. Die Legende besagt, dass Gott Abraham, der auf einem Scheiterhaufen verbrannt werden sollte, errettete, indem er das Feuer in Wasser verwandelte und Glutbrocken zu Karpfen wurden. Wir gingen mit der Vorstellung nach Urfa, dort guten Fisch zu essen. Unsere türkischen Freunde in Malatya redeten im Zusammenhang mit Urfa immer von guten Fischen. Ich verstand falsch und interpretierte, es gäbe gute Fische zum Essen in Urfa. Auf entsprechende Nachfrage in zwei, drei Restaurants werden wir nur ungläubig angeschaut. Langsam ahnen wir, dass wohl die heiligen Fische im Teich gemeint sind. In Urfa isst man keinen Fisch.

Hier spielt der Ramadan eine bedeutendere Rolle, als in den anderen Orten in denen wir bis jetzt waren. Also bekommen auch wir erst nach Sonnenuntergang um ca. 20 Uhr etwas zu essen. Da es sowieso sehr heiß ist, ist das überhaupt kein Problem. Nach dem Essen plaudern wir mit Ibrahim, der beklagt, dass vor zehn Jahren viel mehr Touristen die Stadt besucht hätten. Die Schuld dafür gibt er dem Kurdenkonflikt, aber ich bin nicht sicher ob wir uns richtig verstehen. Sicher ist, dass er ein Befürworter Erdogans ist, dieser hätte viel für den Frieden mit den Kurden getan, sagt Ibrahim, selber Kurde. Heute ist ein anderer Konflikt in Urfa direkt spürbar, jener in Syrien. In der Region gibt es drei Flüchtlingslager. Wir treffen auf einige Flüchtlinge und bettelnde Kinder. Eine junge Frau erzählt uns, dass ihr Vater tot ist und sie jetzt mit ihrem Sohn in Urfa ist. Diese Geschichten sind so traurig, es ist schwierig Worte zu finden…

Von Urfa aus besuchen wir Harran, einer der ältesten permanent bewohnten Orte auf der Welt. Schon im 3. Jahrtausend v. Chr. Lebten hier Menschen, auch die Überreste der ältesten Universität der Welt stehen hier. In Harran treffen wir auf einen türkisch-schweizerischen Doppelbürger, der seit 20 Jahren in Buchs lebt. Die Welt ist klein.

Bald gehen wir in den Iran, und ich brauche noch ein paar (lange, weite) Kleider. Wie sich herausstellt eignet sich der hochgelobte Bazar von Urfa nicht für Shopping, also versuche ich mein Glück in einem Kleiderladen. Die angebotene Mode entspricht nicht ganz meinem Geschmack, aber ich finde einen langen Rock. Dass er etwas zu gross ist kein Problem, im Handumdrehen wird er etwas enger genäht, ohne Aufpreis versteht sich. Den Männern wird hier Tee serviert während die Frauen einkaufen. Was die 19jährige Verkäuferin aber am meisten interessiert ist, wie Jonas und ich zueinander stehen. Ob wir verheiratet, Freunde oder Geschwister sind. Meine Antwort entrückt ihr ein verschmitztes Lächeln.


Und kulinarisch?
Urfa ist bekannt für Lamm-Leber. Ganz nach dem Motto was der Bauer nicht kennt frisst er nicht lassen wir diese aus. Also bleiben wir bei den bekannten Kebaps, die hier aber stärker gewürzt sind als im Rest der Türkei. Den orientalischen Einfluss spürt man auch bei den Salaten, die oft mit frischer Minze angereichert sind. 




3 Götter auf dem Nemrut Dagi




Aussicht



Sonnenuntergang



Atatürk-Staudamm



Urfa





Vor dem Teich mit den heiligen Fischen



Überreste der ältesten Universität in Harran


Dienstag, 16. Juli 2013

"Unsere" türkische Familie

Am Busbahnhof von Malatya werden wir von Mehmet empfangen. Mehmet ist der Cousin einer sehr guten Freundin von mir, der mit seiner Frau Fidan und seinen Söhnen Boran (6 Jahre) und Miran (11 Monate) in Malatya lebt. Zum Glück erkennt er uns gleich an unseren grossen Rucksäcken, wir hätten ihn trotz facebook-Fotos nicht erkannt. Schnell stellt sich heraus, dass Mehmet kein Englisch spricht. Jetzt werde ich wirklich auf die Probe gestellt mit meinen Türkischkenntnissen (oder eben Nicht-Kenntnissen). Zuhause warten Fidan und die Kinder auf uns, winken bereits vom Balkon. Eigentlich haben wir vorgängig ein Hotel reserviert, aber dass wir ins Hotel gehen kommt für Mehmet nicht in Frage, auf gar keinen Fall. Ganz selbstverständlich stellen Fidan und Mehmet uns ihr Schlafzimmer zur Verfügung, sie selbst schlafen im Wohnzimmer und auf dem Balkon. Widerstand ist bei der türkischen Gastfreundschaft zwecklos, also nehmen wir sie an (mit ein bisschen schlechten Gewissen, das wir - ich weiss - nicht haben müssen). Nur mit dem Klo hat Jonas anfangs etwas Berührungsängste, denn in Anatolien scheint die WC-Schüssel noch nicht Einzug gehalten zu haben. In den Wohnungen gehören Stehklos (keine Ahnung, ob dies die korrekte Bezeichnung ist) zur Standardeinrichtung.

Die Offenheit und Herzlichkeit, mit der wir empfangen werden, ist nur schwer zu beschreiben. Die Freude uns zu sehen kommt von Herzen. Umso mehr bedauern wir, dass wir keine richtige Konversation führen können. Mein Türkisch-Wortschatz beschränkt sich auf das wirklich Notwendige, diskutieren kann ich nicht. Und der Online-Übersetzer auf dem Tablet hat auch so seine Grenzen. Trotzdem lachen wir viel zusammen, die Stimmung ist sehr heiter. Vor allem Jonas’ Antwort auf die Frage ob er ein Bier wolle: “nein, ich mache Ramadan” sorgt für grosses Gelächter. Dies wird in den nächsten zwei Tagen zum Running-Gag, der bei jedem Familienbesuch (und es werden viele) wieder erzählt wird.

Am darauffolgenden Tag mieten wir ein Auto. Mehmet hilft uns dabei, was sehr wertvoll ist. Nach einem ausgiebigen Frühstück geht es los mit unserer Tour. Zuerst fahren wir auf die Aprikosenplantage von Mehmet’s Eltern. Die Provinz Malatya ist das weltweit grösste Anbaugebiet für Aprikosen. Hier werden die süssen Früchte entsteint und als ganze Frucht getrocknet. Ca. 95% der in Europa gehandelten getrockneten Aprikosen stammen aus Malatya. Natürlich posieren auch wir mit den Aprikosen für ein Foto, und “arbeiten” ein wenig, ganz nach Wunsch meiner Freundin.

Weiter geht's zu Fidan’s Schwester, wo wir einen hervorragenden türkischen Kaffee serviert bekommen. Anschliessend fahren wir zu einem Restaurant wo es scheinbar guten Fisch aus einem nahe gelegenen See geben soll. Da es wahnsinnig heiß und erst etwa 3 Stunden seit dem Frühstück vergangen sind, haben wir absolut keinen Hunger. Mehmet und Fidan scheinen auch nicht sehr hungrig zu sein, also verzichten wir auf das Essen, auch weil ein weiteres Essen im Dorf geplant ist. Jonas ist erstaunt, dass wir soviel essen sollen, obwohl ich ihn davor gewarnt habe, dass wir wohl gestopft werden würden. Auch dies ist ein Zeichen der Gastfreundschaft. Also gibt’s çay (Tee) statt Fisch.

Endlich fahren wir dann nach Eskiköy, ins Dorf wo der Vater meiner Freundin aufgewachsen ist und die Grossmutter Haus und Garten noch immer in Schuss hält. Auch hier werden wir sehr sehr warm empfangen. Es wird Ayran gereicht (ein Milchgetränk) und die Grossmutter macht sich daran, Brot für uns zu backen. Das Fladenbrot wird hier auf dem Feuer gebacken, auch ich “muss” ein bisschen “arbeiten”. Und auch dies wird anschließend zum Running-Gag: Fidan wünscht sich, dass ich nach Eskiköy ziehe, Aprikosen ernte und Brot backe. Jonas wird sich um den Hund kümmern. Tamam (ok). Nach einer ausführlichen Besichtung des riesigen Gartens gibt es Abendessen: Frisches Fladenbrot, Börek, Tomaten, Paprika, Gurken, Joghurt, Käse - alles aus Eigenproduktion. Es ist sehr bewundernswert, wie die Grossmutter den grossen Haushalt bewältigt. In Eskiköy treffen wir noch weitere Verwandte von Mehmet an, überall sitzen wir schnell hin und plaudern ein wenig. 


Bevor wir wieder nach Hause fahren schauen wir bei Fidans anderer Schwester vorbei. Ich bekomme ein Kopftuch geschenkt - für den Iran. Sehr müde aber überwältigt von der Herzlichkeit der Menschen kehren wir zurück. Ausnahmslos überall werden wir mit offenen Armen und offenen Herzen empfangen. Soviel Offenheit gegenüber “fremden” Menschen, wie wir es sind, sind wir uns aus der Schweiz nicht gewohnt. Und ich denke Fidan und Mehmet haben uns auch zu all ihren Verwandten mitgenommen, weil sie sich selbst sehr über unseren Besuch gefreut haben. 

Es sind bodenständige und ehrliche Menschen, die wir antreffen. Gekennzeichnet von der harten Arbeit, jedoch dem Anschein nach zufrieden mit dem Leben. Ich fange an über mein eigenes Leben nachzudenken. Kann es das sein, jeden Tag im Büro zu arbeiten, von der Arbeit zu den Freizeitterminen zu hetzen, am Wochenende in der Stadt nach dem Vergnügen zu suchen? Würde ein bisschen weniger Konsum nicht auch ausreichen? Es ist eine andere Welt, in die wir hier eintauchen durften, und dafür bin ich sehr sehr dankbar. 


Bevor Jonas und ich am darauffolgenden Tag wieder alleine mit dem Auto losziehen, kommen wir bei Mehmets Eltern nochmals in den Genuss eines reichhaltigen türkischen Frühstücks. Der Jogurt der serviert wird, ist wahrscheinlich der Beste den ich je gegessen habe. Beim Haus von Mehmets Eltern treffen wir auch noch auf Mehmets andere Grossmutter. Die Frau ist 100-jährig und hat zwölf Kinder zur Welt gebracht. Sie redet auf mich ein, und ich verstehe kein - wirklich kein - Wort. Ich bin dann etwas erleichtert, als Mehmet mir sagt, dass sie nur Kurdisch spricht. Und Jonas fragt sich, wie die 100-jährige Frau wohl aufs “Stehklo” geht. 


Der Abschied ist ein bisschen traurig. Der 6-jährige Boran hat Jonas sehr ins Herz geschlossen und möchte ihn kaum gehen lassen. Trotz den Verständigungsschwierigkeiten haben wir das Gefühl, Mehmet und Fidan schon ewig zu kennen - obwohl wir nicht einmal ganz zwei Tage mit ihnen unterwegs waren. Ich hoffe sehr, sie schaffen es einmal in die Schweiz zu kommen, damit wir wenigstens ein bisschen von dem, was sie uns gegeben haben, zurückgeben können.

Und kulinarisch?
Speziell zu erwähnen ist das Fladenbrot, das so frisch vom Feuer unglaublich gut schmeckt. Und natürlich die Aprikosen - die süssesten die ich je gegessen habe. 




Mehmet und seine Familie



Aprikosen soweit das Auge reicht



 

Arbeit auf dem Dorf




Im Wohnzimmer der Grossmutter




Die Landschaft in Eskiköy




Frisches Fladenbrot und die süssesten Aprikosen





Sonntag, 14. Juli 2013

Die wundersame Welt Kappadokiens

Spät abends und ziemlich ermüdet erreichen wir Göreme in Kappadokien. Da es dunkel ist werden wir uns der magischen und wundersamen Umgebung erst am nächsten Tag bewusst. Wir haben zwar viel über die Region gelesen und gehört, so richtig vorstellen kann man es sich aber trotzdem nicht, wenn man es nicht mit eigenen Augen sieht. In Kappadokien haben Regen, Wind und Flussläufe im Laufe von 60 Mio. Jahren ihre bizarren Gebilde hinterlassen. Die Menschen haben sich  die vielen Felsen, Türme und Elfen-Cheminées zunutzen gemacht, sie ausgehöhlt und während Jahrhunderten ihre Wohnungen und Kirchen darin errichet.
Da es in der Region sehr viel zu sehen gibt buchen wir nach längerem Überlegen eine eintägige Tour, da man auf eigene Faust nur viel Zeit bräuchte um an einzelne Orte zu gelangen. So fahren wir in einem Kleinbus mit vorwiegend asiatischen Touristen und unserem Guide Ali von Ort zu Ort. Ali gibt allen türkische Namen. Jonas wird zu Mehmet und ich werde zu Aysche. Ausserdem weist Ali darauf hin, dass wir sehr viel trinken sollen, es ist heiß und wir sind oft an der Sonne. Er selbst trinkt den ganzen Tag nichts. Ramadan. Am Schluss des Tages ist er fix und fertig: durstig und etwas genervt über die asiatischen Touristen, die seiner Meinung nach zu wenig interessiert sind. Ich kann ihn verstehen.

Das Highlight der Tour ist der Besuch der unterirdischen Siedlung Derinkuyu. Die zahlreichen unterirdischen Siedlungen in der Region waren bereits im 4. Jahrhundert vor Christus erwähnt. Während des 6. und 7. Jahrhundert haben die damals in der Region ansässigen Christen halbe Städte unter der Erde gebaut. Darin haben sie sich versteckt, wenn die arabische oder die persische Armee wieder mal im Anzug war. Bis zu drei Monaten wohnten die Christen dann im Untergrund, teilweise inklusive Tiere. In Derinkuyu hausten auf sieben unterirdischen Stockwerken bis zu 10’000 Personen, was nur schwer vorstellbar ist. Wie es damals wohl gerochen? Lassen wir das… Der Rest der Tour ist - wie soll ich sagen - nett, aber nicht mehr so beeindruckend. Von der Ihlara Vadisi-Schlucht, von der in jedem Reiseführer steht, man solle sie unbedingt besuchen, sind wir eher enttäuscht. Vielleicht auch aufgrund der hohen Erwartungen, die Ali mit dem Vergleich der Schlucht mit dem Grand Canyon geweckt hat. Das ist als würde man eine Pfütze mit dem Atlantik vergleichen. Zudem ist zu erwähnen, dass unsere Gruppe hinter einer anderen Reisegruppe hinterher trampelt, gefolgt von der nächsten Touri-Gruppe. Der Stopp in Soganli lohnt sich da schon eher. Ursprünglich sollte eine Star Wars Szene im Dorf gedreht werden, aber da die türkische Regierung die Bewilligung nicht erteilte, wurde die Episode dann in Tunesien gedreht. Nichtsdestotrotz wirbt der Ort mit seiner Star Wars-Vergangenheit. Auch hier lebten bis 1923 Menschen in den Felsen. 

Am Abend sind auch wir fix und fertig. Wir schaffen es gerade noch essen zu gehen. Das Restaurant scheint für gutes Brot bekannt zu sein. Kurz vor Sonnenuntergang strömen die Einheimischen hierher um Fladenbrot zu holen. Die Menschen sind gut gelaunt, denn bald können sie das fasten bis zum nächsten Sonnenaufgang brechen. Auch ohne den ganzen Tag gefastet zu haben schmeckt das Fladenbrot ausgezeichnet.

Bevor wir weiterreisen besuchen wir am Morgen früh noch das Open Air-Museum von Göreme. Hier kann man in die Skulpturen hineingehen und bekommt einen Eindruck davon, wie die Menschen gelebt haben könnten. Wir haben uns die Anlage etwas größer vorgestellt, sehenswert ist sie allemal.

Kappadokien ist doppelt bewundernswert. Erstens hat die Natur aussergewöhnliche Skulpturen wie Phallus-ähnliche Felsen, Elfenbein-Cheminées und Pilze hervorgebracht. Zweitens staunen wir ab den von Mensch gefertigten Wohn-, Koch- und Betanlagen in den Felsen. Und obwohl auch hier die Auswüchse des Massentourismus ihre Spuren hinterlassen haben, ist der Ort absolut empfehlenswert. Für eine Übernachtung können wir die Traveller’s Cave Pensionn empfehlen. Die Zimmer entsprechen ganz dem Göreme-Stil und die Leute sind sehr freundlich.

Und kulinarisch?
Die Region ist bekannt für Pottery. Dies ist eine Art Eintopf, der in einem Tonkrug im Ofen während mehrere Stunden gegart wird. Schmeckt gut, kann es meiner Meinung nach aber nicht mit anderen türkischen Spezialitäten aufnehmen. 





Die wundersame Landschaft Kappadokiens






 

Unterirdische Siedlung





Hier hätte Star Wars gedreht werden sollen





Zimmer in Göreme




Pottery mit Ramadan-Brot